Ein Text für Helmut Schweizer
Die Freude, die wir an den Blumen haben, das ist noch ordentlich vom Paradiese her. Philipp Otto Runge. 1802 Rose is a rose is a rose is a rose. Gertrud Stein, 1922 Uber die Arbeiten Helmut Schweizers zu schreiben, bedeutet zugleich, über Pflanzen, Blumen und Blüten nachzudenken. Die Blume im Bild, das ist ein altes, im Verlauf der Kunstentwicklung immer wieder neu gesehenes Motiv. Man erinnert sich: Dürers Veilchenstrauß, die Bouquets des Jan Brueghel, die Blumenbücher der Maria Sybill Merlan, Manets Flieder und Noldes Dahlien, die "Flowers"-Serie von Andy Warhol. Diese willkürlich gewählte Reihe läßt sich beliebig ergänzen, denn das Blumenstück war und blieb eine Konstante im ikonographischen Kanon, wobei die Erlebnis-, Seh-und Malgewohnheiten der jeweiligen Epoche den Bildern ihre Stempel aufdrückten. So gab es rein dekorative Darstellungen, daneben auch tiefsinnig Symbolisches und, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert,. viel botanische Akribie. So weit, so gut, das ist Geschichte, in kunstwissenschaftlichen Handbüchern klassifiziert und nachlesbar. Plötzlich aber taucht eine Holzkiste von Helmut Schweizer auf, mit dem Titel "Frühlingsanfang 1972 -19. März, 26. März, 2. April" (Kat. Nr. 4), dazu erläuternd mit schwarzem Filzstift: "An diesen vier Sonntagen machten wir Spaziergänge in einem Waldgebiet rechts des Rheins bei Daxlanden. Von den Pflanzen, die am Wege blühten, haben wir jeweils eine gepflückt." Es folgt die Benennung der 27 gesammelten Pflanzen, darunter Löwenzahn und Huflattich, Sternmiere und Buschwindröschen, die eingeschweißt in durchsichtige Polyäthylenbeutel, in der Kiste zusammengestellt sind. Ein Blumenstück? Gewiß doch, wenn auch keines, dem mit den traditionellen Kategorien dieser Gattung beizukommen wäre. Zunächst verläßt diese Arbeit schon aufgrund ihrer Erscheinungsform den Eingangs angedeuteten Traditionszusammenhang, weil Helmut Schweizer nichts reproduzierend oder fingierend darstellt, sondern sich realer, in der Natur gewachsener Pflanzen bedient, die von ihm ausgewählt, gesammelt und eingeschweißt werden. Als Ergebnis kann er eine systematische Abfolge präsentieren, die sowohl durch die mitgeteilten (Pflück-)Daten als auch durch den ablesbaren Fäulnis- und Zersetzungsprozeß der Pflanzen den Faktor "Zeit" bewußtmacht und sichert. Somit liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Arbeit im Begreifen ihrer prozessualen Aspekte; was schließlich als ästhetisches Resultat manifestiert wird, ist Dokument. Und gewiß nicht dekoratives Arrangement. Man muß sich dieses Sachverhalts immer bewußt bleiben, um Helmut Schweizers Arbeiten nicht falsch zu beurteilen. Auch die anderen vier Pflanzkästen, die in dieser Ausstellung präsentiert werden (Kat. Nr. 1, 2, 3, 5) umschreiben die Problematik von Zeit und Raumerfahrungen. Zeit, das bedeutet für Helmut Schweizers Arbeiten die biologische Zeit, die durch den Ablauf des Blühens und Vergehens der Pflanzen definiert ist; dazu kommt die objektive (Kalender-)Zeit, mittels derer die Pflückdaten und ihre Intervalle festgelegt werden. Als drittes Bezugsmoment tritt zu diesen beiden Zeitsystemen noch die Ortsbestimmung in Form des immer topographisch genau beschriebenen Sammelareals. Der hohe Reiz dieser Arbeiten, die sich zunächst als ganz und gar unaufwendige Objekte darbieten, liegt neben der meist zufälligen optischen Erscheinungsform in jener gedanklichen Vielschichtigkeit, die bewirkt, daß sich der offenkundig statische Charakter eines Pflanzenkastens wieder auflöst in Bewegung, allerdings nicht mittels Illusion, sondern durch Reflexion, die im Kopf des Betrachters mitvollzogen werden muß.
Mit diesen Arbeiten weist sich Helmut Schweizer ohne Zweifel als progressiver Künstler aus, wobei progressiv hier zugleich als Epitheton verstanden werden soll, das verweist auf die erstaunlichen Entwicklungsschritte, die dieser junge Künstler innerhalb weniger Jahre zurückgelegt hat. Im Sommer 1968, noch während des Studiums an der Kunstakademie in Karlsruhe, entsteht aus einer kritischen Haltung gegenüber den tradierten Formen des Staffeleibildes die Serie der "Flüssigkeiten", farbige, in Wasser gelöste Chemikalien, die in Polyesterkästen präsentiert werden und die formal eine Mittelstellung zwischen Bild und Objekt einnehmen. Polyäthylenfolien und Chemikalien sind dann das Ausgangsmaterial für Schweizers "Interieurs", Tische, Sessel, Betten, die sich aus einer Collage von bunten Flüssigkeiten und sparsamer Bleistiftzeichnung aufbauen. Ausschließlich mithilfe der eingeschweißten farbigen Flüssigkeiten entsteht daneben ein Zyklus von Landschaftsbildern, "Himmel",
"Berge", Wolken", die der Künstler als Visualisierung "poetischer Gedanken" versteht und die sehr bald die vorgegebenen Rahmengrenzen überschreiten und zu räumefüllenden Environments arrangiert werden. Noch ausgreifender werden die Dimensionen bei den 1969 vorgenommenen "Einfärbungen", wenn ganze Bäche, Seestücke und Schneeflächen mit Hilfe von Chemikalien koloriert werden und er im Rahmen einer öffentlichen Aktion nächtens die Leine in Hannover fluoreszierend aufleuchten läßt.
Die Natur, die belebte und die unbelebte, wurde ihm zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung, wobei er sie nicht - mit Pinsel und Farbe auf Leinwand - reproduzierte oder neu gestaltete, sondern als Akteur unmittelbar in ihre Abläufe verändernd eingriff. Das Dokument dieser Eingriffe sind Helmut Schweizers "Handlungen", die er im Medium der Photographie (als Papierabzug in Dia- und Filmprojektion) festgehalten hat. Der formale Aufbau der Photoserien basiert auf einem strengen, fast immer durchlaufend beibehaltenen Dreierschema, das erstens die vorgefundene Situation, zweitens den Eingriff und drittens die Situation nach dem Eingriff wiedergibt. So zunächst eine geschlossene Tulpenblüte, dann der Zugriff einer Hand auf die Blütenblätter, schließlich der kahle Stengel, an dessen oberem Ende nur noch die Staubgefäße und der Stempel sitzen. Oder: reife, leuchtendrote Johannisbeeren am Strauch, eine Hand zerquetscht sie und ihr Saft rinnt wie Blut über die Finger. Die letzte Einstellung zeigt die aufgeplatzten und ausgepreßten Beeren. In Operationen, die dramaturgisch ähnlich ablaufen, werden ein Stück Baumrinde vom Stamm gelöst, ein Blatt zerrieben, ein Pilz senkrecht durchgeschnitten, die Dornen am Stiel einer Rose weggebrochen. Diese Eingriffe können negativ sein, eine vorgefundene Form bis zur Unkenntlichkeit vernichten, aber auch zu einer neuen Form führen, die dann in dem Zusammenhang un- oder gegennatürlich wirkt.
Im Umgang mit Pflanzen, mit Blumen vor allem, haben wir von Kind auf bestimmte Verhaltensformen gelernt: Wir haben keine Skrupel, eine Blume abzuschneiden, sie in die Vase zu stellen und wenn uns ihr Zustand nicht länger gefällt, sie welk und braun geworden ist, auf den Müll zu werfen. Niemals aber (oder doch, vielleicht als Kind, wenn wir uns unbeobachtet fühlten?) hätten wir eine blühende Pflanze zerstört, gar ihr die Blütenblätter, Stück für Stück, ausgerissen. An diese ungeschriebenen Spielregeln hat sich Helmut Schweizer nicht gehalten. Er bricht Tabus und provoziert in uns mit vielen seiner Stücke den Widerspruch derer, die es anders gelernt haben. Sein Handeln gegen unsere emotional aufgeladenen Klischees von Natur erzwingt gewaltsam eine neue Sicht der Dinge, die eine durch Irritation gesteigerte Sensibilität hervorbringt.
Eberhard Freitag
Ein Text für Helmut Schweizer
Die Freude, die wir an den Blumen haben, das ist noch ordentlich vom Paradiese her. Philipp Otto Runge. 1802 Rose is a rose is a rose is a rose. Gertrud Stein, 1922 Uber die Arbeiten Helmut Schweizers zu schreiben, bedeutet zugleich, über Pflanzen, Blumen und Blüten nachzudenken. Die Blume im Bild, das ist ein altes, im Verlauf der Kunstentwicklung immer wieder neu gesehenes Motiv. Man erinnert sich: Dürers Veilchenstrauß, die Bouquets des Jan Brueghel, die Blumenbücher der Maria Sybill Merlan, Manets Flieder und Noldes Dahlien, die "Flowers"-Serie von Andy Warhol. Diese willkürlich gewählte Reihe läßt sich beliebig ergänzen, denn das Blumenstück war und blieb eine Konstante im ikonographischen Kanon, wobei die Erlebnis-, Seh-und Malgewohnheiten der jeweiligen Epoche den Bildern ihre Stempel aufdrückten. So gab es rein dekorative Darstellungen, daneben auch tiefsinnig Symbolisches und, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert,. viel botanische Akribie. So weit, so gut, das ist Geschichte, in kunstwissenschaftlichen Handbüchern klassifiziert und nachlesbar. Plötzlich aber taucht eine Holzkiste von Helmut Schweizer auf, mit dem Titel "Frühlingsanfang 1972 -19. März, 26. März, 2. April" (Kat. Nr. 4), dazu erläuternd mit schwarzem Filzstift: "An diesen vier Sonntagen machten wir Spaziergänge in einem Waldgebiet rechts des Rheins bei Daxlanden. Von den Pflanzen, die am Wege blühten, haben wir jeweils eine gepflückt." Es folgt die Benennung der 27 gesammelten Pflanzen, darunter Löwenzahn und Huflattich, Sternmiere und Buschwindröschen, die eingeschweißt in durchsichtige Polyäthylenbeutel, in der Kiste zusammengestellt sind. Ein Blumenstück? Gewiß doch, wenn auch keines, dem mit den traditionellen Kategorien dieser Gattung beizukommen wäre. Zunächst verläßt diese Arbeit schon aufgrund ihrer Erscheinungsform den Eingangs angedeuteten Traditionszusammenhang, weil Helmut Schweizer nichts reproduzierend oder fingierend darstellt, sondern sich realer, in der Natur gewachsener Pflanzen bedient, die von ihm ausgewählt, gesammelt und eingeschweißt werden. Als Ergebnis kann er eine systematische Abfolge präsentieren, die sowohl durch die mitgeteilten (Pflück-)Daten als auch durch den ablesbaren Fäulnis- und Zersetzungsprozeß der Pflanzen den Faktor "Zeit" bewußtmacht und sichert. Somit liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Arbeit im Begreifen ihrer prozessualen Aspekte; was schließlich als ästhetisches Resultat manifestiert wird, ist Dokument. Und gewiß nicht dekoratives Arrangement. Man muß sich dieses Sachverhalts immer bewußt bleiben, um Helmut Schweizers Arbeiten nicht falsch zu beurteilen. Auch die anderen vier Pflanzkästen, die in dieser Ausstellung präsentiert werden (Kat. Nr. 1, 2, 3, 5) umschreiben die Problematik von Zeit und Raumerfahrungen. Zeit, das bedeutet für Helmut Schweizers Arbeiten die biologische Zeit, die durch den Ablauf des Blühens und Vergehens der Pflanzen definiert ist; dazu kommt die objektive (Kalender-)Zeit, mittels derer die Pflückdaten und ihre Intervalle festgelegt werden. Als drittes Bezugsmoment tritt zu diesen beiden Zeitsystemen noch die Ortsbestimmung in Form des immer topographisch genau beschriebenen Sammelareals. Der hohe Reiz dieser Arbeiten, die sich zunächst als ganz und gar unaufwendige Objekte darbieten, liegt neben der meist zufälligen optischen Erscheinungsform in jener gedanklichen Vielschichtigkeit, die bewirkt, daß sich der offenkundig statische Charakter eines Pflanzenkastens wieder auflöst in Bewegung, allerdings nicht mittels Illusion, sondern durch Reflexion, die im Kopf des Betrachters mitvollzogen werden muß.
Mit diesen Arbeiten weist sich Helmut Schweizer ohne Zweifel als progressiver Künstler aus, wobei progressiv hier zugleich als Epitheton verstanden werden soll, das verweist auf die erstaunlichen Entwicklungsschritte, die dieser junge Künstler innerhalb weniger Jahre zurückgelegt hat. Im Sommer 1968, noch während des Studiums an der Kunstakademie in Karlsruhe, entsteht aus einer kritischen Haltung gegenüber den tradierten Formen des Staffeleibildes die Serie der "Flüssigkeiten", farbige, in Wasser gelöste Chemikalien, die in Polyesterkästen präsentiert werden und die formal eine Mittelstellung zwischen Bild und Objekt einnehmen. Polyäthylenfolien und Chemikalien sind dann das Ausgangsmaterial für Schweizers "Interieurs", Tische, Sessel, Betten, die sich aus einer Collage von bunten Flüssigkeiten und sparsamer Bleistiftzeichnung aufbauen. Ausschließlich mithilfe der eingeschweißten farbigen Flüssigkeiten entsteht daneben ein Zyklus von Landschaftsbildern, "Himmel",
"Berge", Wolken", die der Künstler als Visualisierung "poetischer Gedanken" versteht und die sehr bald die vorgegebenen Rahmengrenzen überschreiten und zu räumefüllenden Environments arrangiert werden. Noch ausgreifender werden die Dimensionen bei den 1969 vorgenommenen "Einfärbungen", wenn ganze Bäche, Seestücke und Schneeflächen mit Hilfe von Chemikalien koloriert werden und er im Rahmen einer öffentlichen Aktion nächtens die Leine in Hannover fluoreszierend aufleuchten läßt.
Die Natur, die belebte und die unbelebte, wurde ihm zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung, wobei er sie nicht - mit Pinsel und Farbe auf Leinwand - reproduzierte oder neu gestaltete, sondern als Akteur unmittelbar in ihre Abläufe verändernd eingriff. Das Dokument dieser Eingriffe sind Helmut Schweizers "Handlungen", die er im Medium der Photographie (als Papierabzug in Dia- und Filmprojektion) festgehalten hat. Der formale Aufbau der Photoserien basiert auf einem strengen, fast immer durchlaufend beibehaltenen Dreierschema, das erstens die vorgefundene Situation, zweitens den Eingriff und drittens die Situation nach dem Eingriff wiedergibt. So zunächst eine geschlossene Tulpenblüte, dann der Zugriff einer Hand auf die Blütenblätter, schließlich der kahle Stengel, an dessen oberem Ende nur noch die Staubgefäße und der Stempel sitzen. Oder: reife, leuchtendrote Johannisbeeren am Strauch, eine Hand zerquetscht sie und ihr Saft rinnt wie Blut über die Finger. Die letzte Einstellung zeigt die aufgeplatzten und ausgepreßten Beeren. In Operationen, die dramaturgisch ähnlich ablaufen, werden ein Stück Baumrinde vom Stamm gelöst, ein Blatt zerrieben, ein Pilz senkrecht durchgeschnitten, die Dornen am Stiel einer Rose weggebrochen. Diese Eingriffe können negativ sein, eine vorgefundene Form bis zur Unkenntlichkeit vernichten, aber auch zu einer neuen Form führen, die dann in dem Zusammenhang un- oder gegennatürlich wirkt.
Im Umgang mit Pflanzen, mit Blumen vor allem, haben wir von Kind auf bestimmte Verhaltensformen gelernt: Wir haben keine Skrupel, eine Blume abzuschneiden, sie in die Vase zu stellen und wenn uns ihr Zustand nicht länger gefällt, sie welk und braun geworden ist, auf den Müll zu werfen. Niemals aber (oder doch, vielleicht als Kind, wenn wir uns unbeobachtet fühlten?) hätten wir eine blühende Pflanze zerstört, gar ihr die Blütenblätter, Stück für Stück, ausgerissen. An diese ungeschriebenen Spielregeln hat sich Helmut Schweizer nicht gehalten. Er bricht Tabus und provoziert in uns mit vielen seiner Stücke den Widerspruch derer, die es anders gelernt haben. Sein Handeln gegen unsere emotional aufgeladenen Klischees von Natur erzwingt gewaltsam eine neue Sicht der Dinge, die eine durch Irritation gesteigerte Sensibilität hervorbringt.
Eberhard Freitag